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Wo der Flüchtlingsdeal doch funktioniert

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Wo der Flüchtlingsdeal doch funktioniert

Routen durch die Türkei – Abbildung aus internen Behördenunterlagen

Die grobe Lesart geht so: Der Deal funktioniert nicht. Griechenland schafft es nicht, Migranten ordentlich unterzubringen. Syrer, die nicht in die Türkei zurückwollen, werden auch nicht dorthin gebracht. Europa nimmt der Türkei im Vergleich zu viele Migranten ab. Außerdem unterstützen die EU-Staaten die Griechen nur mäßig bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise.

Wer sich den aktuellen 15-seitigen Bericht der EU-Kommission zur Umsetzung des EU-Türkei-Abkommens durchliest, wird tatsächlich an dessen Erfolg zweifeln. Und doch lautet der erste Satz im Fazit: „Das EU-Türkei-Abkommen hat erneut zu konkreten Resultaten geführt.“ Wie also kommt die Kommission dazu?

Zunächst: Ja, es kracht gerade gewaltig im Verhältnis zwischen Europa und der Türkei. Ankara erzürnte die Armenien-Resolution des Bundestages. Hierzulande wiederum hat man keinerlei Verständnis für die Säuberungsaktionen nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli. Das und vieles andere (wie etwa die Haft unseres Kollegen Deniz Yücel) haben den Graben vertieft. Jetzt, vor dem G20-Gipfel in Hamburg, eskaliert es gewaltig weiter: Ankara schickt neue Gülen-Listen, will prügelnde Bodyguards mitschicken und nimmt Bundestagsabgeordnete ins Visier. Einen Auftritt Erdogans am Rande des Treffens hat die Bundesregierung schließlich verboten.

Und doch: Deutschland und die Türkei haben auch in den vergangenen Monaten immer wieder betont, dass ein Bruch undenkbar sei. Nach wie vor gibt es dafür vor allem zwei Gründe: den gemeinsamen Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) sowie das Vorgehen gegen illegale Migration in der Flüchtlingskrise – womit wir wieder bei jenem Abkommen sind, das im März des vergangenen Jahres vor allem von Berlin (unter Ausschluss vieler europäischer Partner) und Ankara auf den Weg gebracht wurde.

Das wichtigste politische Ziel des Deals wird bislang nämlich erreicht. Zusammen mit der Schließung der Balkanroute in Mazedonien hat die Maßnahme dazu geführt, dass kaum noch Migranten über die Ägäis nach Europa kamen. Im Jahr 2015 erreichten rund eine Million Menschen Europa über diesen Weg. Zuletzt zählten die Behörden täglich nur noch durchschnittlich 52 Migranten, wie die EU-Kommission berichtet (die türkische Seite wiederum spricht selbstbewusst von 4-30 Personen pro Tag). Man kann deshalb feststellen: Die Balkanroute ist im Vergleich zu den Vorjahren dicht (Hier ein Bericht über aktuelle Schlupflöcher)

Ein wesentlicher Bestandteil des Abkommens mit der Türkei funktioniert nämlich: Während die Behörden vor Ort 2015 noch kaum etwas gegen Schleuser im eigenen Land unternommen haben und die vielen Boote problemlos in See stechen konnten, greift die Türkei mittlerweile streng durch. Das berichten jedenfalls deutsche Beamte, die mit der Situation vor Ort vertraut sind. Im internen Bericht des Gemeinsamen Analyse- und Strategiezentrums illegale Migration (Gasim) zum einjährigen Jubiläum des Gipfels heißt es daher auch:

„Die EU-Türkei-Erklärung trug zur Reduzierung illegaler Migration nach Griechenland und zur Verbesserung humanitärer Bedingungen für syrische Flüchtlinge in der Türkei bei. Gegenüber den Anlandungen auf den griechischen Inseln ist die Zahl der Rückführungen in die Türkei jedoch äußerst gering.“

Dieses Fazit weist in zwei wichtige Richtungen: Es geht darum, das Leben für die Migranten in der Türkei zu verbessern. Aber eben auch um Grenzschutzmaßnahmen, die kurzfristig helfen sollen.

Hochrangige deutsche Sicherheitsbeamte loben die Türkei dafür, dass sie mittlerweile konsequenter gegen Schlepper vorgeht. 2015 schauten sie weg, als massenhaft Schlauchboote und Schwimmwesten in die Küstenregion geliefert wurden. Schleuser und Migranten konnten ungehindert ihre Geschäfte machen und niemand hielt die Boote in Richtung Griechenland auf. Auch die türkische Seite betont gegenüber Deutschland immer wieder, dass die Anstrengungen der eigenen Sicherheitskräfte und der Küstenwache zum Rückgang der illegalen Migration beigetragen hat. 2500 Mitarbeiter seien dafür mit 65 Booten im Einsatz. Was beide Seiten seltener betonen: Die Türkei sichert mittlerweile auch die Grenze nach Syrien streng.

Fast drei Millionen syrische Migranten leben in der Türkei. Hinzu kommen etwa 300.000 aus Ländern wie dem Irak, Afghanistan oder dem Iran. Die meisten Registrierten halten sich nach Informationen der deutschen Sicherheitsbehörden in der Provinz Istanbul (fast 500.000) auf. Die folgenden Provinzen liegen dagegen direkt an der Grenze zu Syrien: Sanliurfa (rund 420.000), Hatay (380.000) und Gaziantep (330.000). Eine Viertelmillion der syrischen Migranten sind in den 22 staatlichen Lagern untergebracht, die vom türkischen Katastrophenschutz betrieben werden.

Viele von ihnen bleiben in großer Ungewissheit. Die Analyse der deutschen Sicherheitsbehörden (im Gasim sitzen auch der Bundesnachrichtendienst sowie die Bundespolizei) geht davon aus, dass in der Türkei zudem viele Migranten leben, die sich nicht offiziell anmelden – weil sie zum Beispiel weiter nach Europa wollen. Vor allem syrische Migranten richten sich jedoch darauf ein, in der Türkei zu bleiben – oder hoffen auf eine Rückkehr in ihre Heimat.

Die Europäische Union versucht mittlerweile verstärkt, der Türkei bei der Unterbringung und Versorgung der Migranten unter die Arme zu greifen. Auch um Gesundheits- und Bildungsmaßnahmen geht es dabei. Drei Milliarden Euro wurden im Zuge des Abkommens zugesagt (bis Ende 2018 könnten es weitere drei Milliarden werden).

Auf der anderen Seite hat die Türkei zugesichert, Syrern bei der Integration zu helfen. Zudem hat Ankara nach eigenen Angaben bereits mehr als 20 Milliarden Euro für die Versorgung der Migranten ausgegeben.  Mehr als 14.000 haben bereits eine Arbeitserlaubnis erhalten. 60 Prozent der 830.000-900.000 Flüchtlingskinder gehen zur Schule. Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass sich viele Migranten mit schlechtbezahlten Jobs in der Landwirtschaft, auf dem Bau oder in der Gastronomie durchschlagen. Außerdem besuchen 40 Prozent der Kinder eben noch keine Schule.

Viele der Migranten in der Türkei, aber auch in Syrien, wollen aber offenbar trotz allem weiter nach Europa. Die Experten im Gasim schreiben:

„Das Migrationspotenzial der in der Türkei aufhältigen Flüchtlinge – insbesondere im Fall nicht-syrischer Staatsangehöriger – ist grundsätzlich anhaltend hoch.“

Dass vermehrt Migranten von der Türkei über das Meer nach Italien gelangten, zeige, dass weiterhin nach alternativen Routen gesucht werde. „Die Türkei ist nach wie vor Knotenpunkt für die illegale Migration nach Europa, insbesondere für Personen aus Syrien, Irak und Afghanistan“. Mittlerweile kämen mehr Migranten über die Landgrenze nach Europa als über die Ägäis. Die Türkei wiederum hat weiter Sorge vor einem eigenen Kurdenstaat und erklärt, dass das Migrationspotenzial in Nordsyrien weiterhin hoch und Deutschland nach wie vor das beliebteste Zielland sei.

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex befragte im Frühjahr syrische Staatsbürger zu ihrer bisherigen Reise – oder zu ihren Plänen. Viele von ihnen hatten Freunde und Bekannte, die bereits in der EU waren. Mit Schleusern seien sie in die Türkei gekommen. Manche haben nach eigenen Angaben auch Geld an den IS zahlen müssen. Der Preis für die Reise aus Syrien heraus habe 500 bis 1000 US-Dollar betragen. Bevor die Türkei die Grenze strenger sicherte, zahlte man lediglich 50 bis 250 Dollar.

Drehscheibe für die Schleusung nach Europa sei weiterhin Istanbul – nicht nur der Flughafen, über den viele Migranten einfliegen oder das Land mit gefälschten Pässen verlassen. Ziel vieler Migranten sei die offenbar gut ausgebaute Schleuserstruktur in der Metropole. Syrer arbeiteten beispielsweise bis zu einem halben Jahr in der Gastronomie, um das Geld für die Fahrt nach Griechenland zu verdienen. Alle Seeschleusungen, von den Frontex in den Gesprächen mit Syrern erfuhr, seien von Istanbul aus organisiert worden. In Izmir hätten die Syrer dann noch einmal übernachtet. Dann habe man versucht, nach Griechenland zu gelangen. Die meisten Syrer berichteten von ein oder zwei erfolglosen Versuchen. Mal war der Motor kaputt. Oder aber türkische Beamte kamen dazwischen.

 

 

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